Traumatisiert und glücklich miteinander leben, geht das?

Trauma, Blog, Beziehungscoaching

Blog, Trauma, Patricia Russu

Heute möchte ich mich einem Thema widmen, das viele Partnerschaften extrem belastet. Ein Thema, das noch viel zu stark tabuisiert wird, weil sich die Beteiligten entweder dafür schämen, oder den Schmerz, der damit in Verbindung steht, nicht berühren möchten.

Ich werde euch Wegweiser an die Hand geben, die ihr anwenden könnt, wenn euer PartnerIn beginnt „durchzudrehen“, oder verrückt“ und „absurd“ zu reagieren. Auch werde ich euch zeigen, woran man gut erkennt, dass eine Retraumatisierung bevorsteht, oder ob ihr euch einfach nur in einer emotional aufgeladenen Streitsituation befindet.

Wenn ihr es schafft sofort zu reagieren, könnt ihr das Schlimmste verhindern und vor allem wird eure Beziehung nicht an der Wucht der Folgeschäden einer Retraumatisierung leiden, oder gar daran zerbrechen.

Die Traumaforschung vermutet, dass in jeder zweiten Partnerschaft mindestens einer in seiner Kindheit durch ein Trauma erschüttert worden ist. Damit ist nicht zu spaßen. Denn die Kraft, die eine Retraumatisierung entwickeln kann ist so enorm, dass sie deine Beziehung komplett zerstören kann. Sogar wenn der Auslöser dafür in deinen Augen nur eine „Kleinigkeit“ war.

Je jünger ein Kind beim entstehen eines Traumas war, desto schwieriger wird es sein, dem was geschieht mit bewusstem Verstand zu begegnen. Oft weiß ein traumatisierter Menschen nicht genau, was mit ihm los ist und fühlt sich seinen Gefühlen und der Angst, die sich oft als Panik zeigt, komplett ausgeliefert und davon bedroht. In vielen Partnerschaften kommt es dadurch zu absurden Konflikten, aus denen es kein Entrinnen zu geben scheint. Und das ist zum Teil auch richtig. Im Zustand einer Retraumatisierung ist ein Mensch unfähig „normal“ zu reagieren, auch wenn er es eigentlich besser weiß und sich vorgenommen hat nie wieder so zu reagieren.

Wenn das Trauma berührt wird, entstehen Ängste, die für Außenstehende oft unverständlich und absurd wirken. Ein retraumatisierter Mensch reagiert nicht mit Absicht „verrückt“ und will auch nicht manipulieren. Er ist verzweifelt und hilflos und hat das Gefühl einer Situation nicht gewachsen zu sein. Nicht selten denkt ein retraumatisierter Mensch an das beenden seines Lebens. Nicht, weil er sein Leben nicht liebt, sondern weil er sich selber als nicht mehr lebensfähig ansieht.

Hilfe Nr.1:

Appelliere nicht an den normalen Menschenverstand, wenn dein Partner in die Nähe einer Retraumatisierung kommt. Wenn alten Ängste aktiv geworden sind, ist das Nervensystem extrem belastet und ein normales Denken und Fühlen ist in diesem Moment nicht mehr möglich. Ein retraumatisierter Mensch kann nicht mehr normal denken! Erwarte das also nicht vom ihm und fordere auch nicht, dass er auf dich zugeht und etwas „einsieht“, oder wieder erwachsen reagieren solle. Wenn es dir möglich ist, beschütze deinen PartnerIn. Denn das was er/ sie jetzt dringend braucht ist Schutz und Sicherheit.

Um das besser verstehen zu können möchte ich dich gerne in das frühe Kindheitsstadium eines Menschen mitnehmen. Ein Kind erlebt etwas, was so beängstigend ist, dass es um sein Leben fürchtet. Das Nervensystem ist überlastet und sucht nach Hilfe. Nun ist entscheidet, wie eine Bezugsperson darauf reagiert. Kann sie Sicherheit und Geborgenheit geben, oder fühlt sich das Kind/ Baby dem Geschehen ausgeliefert und hilflos sich selber überlassen. Allein das Gefühl, komplett alleine zu sein, ist ausreichend dafür, dass ein Kind nur schwer Vertrauen entwickeln kann, was es bis ins Erwachsenenalter begleiten wird. Wenn es dann später, in der Partnerschaft, zu einer ähnlichen Situation kommt, wird der Partner als Bezugsperson mit der früheren Bezugsperson verknüpft. Das führt dazu, dass der Betroffene Dinge auf sich zukommen sieht, die manchmal sogar wenig mit der tatsächlichen Situation zutun haben, die aber in seinen Augen so aussehen. In diesem Moment entsteht in der Regel: Panik.

Hilfe Nr.2

Stoppe sofort die vorherrschende Konversation. Jedes weitere Wort wirkt wie Öl im Feuer. Das Nervensystem des Traumatisierten ist auf Alarmbereitschaft und er hört eh nicht mehr was du sagst, sondern was, von dem was du sagst, zur Panik passt. Du kannst in solch einer Situation nur falsch verstanden werden und das wiederum könnte bei dir zu einer Gegenreaktionen führen, die die Situation zum Eskalieren bringt. Genau in diesem Moment setzt die Retraumatisierung ein. Die Bezugsperson wendet sich ab und die Erinnerung an das schreckliche Erleben wird wach und erneut erlebt.

Derjenige, der durch einen Trigger, ein Ereignis an sein Trauma erinnert wird, leidet in der Regel Qualen. Darum ist es ein Akt der Gnade, wenn ihr euren Partner in dieser schweren Situation so beistehen könnt, dass er nicht in eine Retraumatisierung hineinrutscht. So kann dieser lernen, dass er/ sie bei euch sicher ist und sich das Schlimme nicht mehr wiederholt. So tritt Entspannung ein und eure Beziehung kann sich wieder der Liebe zuwenden.

Hilfe Nr. 3

ÜBERLASSE EINEN RETRAUMATISIERTEN MENSCHEN NIEMALS ÜBER EINEN LÄNGEREN ZEITTRAUM SICH SELBST.

Wenn du selber überwältig bist von der Situation, vielleicht sogar wütend und ungehalten, dann beruhige dich erst einmal, sorge für dich und wenn du wieder klar denken kannst, wende dich deinem PartnerIn zu. Er/sie braucht jetzt viel Schutz, Sicherheit und Geborgenheit. Das geht am Besten wortlos, mit einer langen warmen Umarmung, einer entspannten Atmosphäre, einem schönen Essen das du zubereitest, oder was auch immer dem anderen zeigt, dass du für ihn/sie da bist. Bitte versuche nichts zu fordern oder zu erwarten, dass der Andere auf dich zukommt oder sagt, was du jetzt machen sollst. In dieser Situation kann der Andere nichts für dich tun und auch nichts FÜR SICH SELBER! Darum solltest du ihn/ sie auch nicht sich selber überlassen. Wenn du das tust, erlebt dieser Mensch all die früheren Qualen, erneut allein, noch einmal. Deine Liebe zu deinem PartnerIn sollte das nicht zulassen.

Wenn du einen retraumatisierten Menschen zu lange sich selbst überlässt, ist er gezwungen auf seine alten Überlebensstrategien zurückzugreifen. Das sind kindliche Strategien, die dem Kind geholfen haben, aber dem Erwachsenen schaden. Sie werden euch emotional voneinander trennen und das Vertrauen zwischen euch unterwandern. Die Überlegensstrategien eines Kindes sind darauf ausgerichtet, dass es nicht mehr spürt was passiert, also gefühllos wird. Und wenn ein Mensch lernt in seiner Beziehung gefühllos werden zu müssen, um wieder den Boden unter die Füssen zu bekommen, könnt ihr eigentlich gleich einpacken. Der traumatisierte Mensch lernt erneut, dass er sich nicht sicher fühlen kann, nicht vertrauen kann und das ist für eine glückliche Partnerschaft fatal.

Sobald sich die Retraumatisierung bzw. das Nervensystem des Anderen wieder entspannt hat, wirst du für dein Da-Sein-Können reichlich belohnt. Denn die Dankbarkeit, durch deine Hilfe der Hölle entronnen zu sein, wird das Band von Vertrauen zwischen euch stärken und eure Liebe immer freier machen.

Hilfe Nr.4

Ein retraumatisierter Mensch fühlt sich im Moment des herankommenden Traumas minderwertig. Wenn du es nicht schaffst, dass dein PartnerIn im Zustand des „verrückt werdens“ seine Würde bewahren kann, kann es zu einem Vertrauensbruch zwischen euch kommen, woran deine Partnerschaft langfristig Schaden nimmt, wenn nicht gar zerbricht. Dein PartnerIn wird, wenn alles vorbei ist, im Bewusstsein mit dir weiterleben, dass du nicht stark genug bist, um wirklich für ihn/sie da zu sein, wenn es schwer wird. In solch einer Beziehung ist Entspannung fast nicht möglich, denn die Sicherheit miteinander fehlt.

Und wenn du jetzt denkst: „warum muss ich hier eigentlich immer alles machen“, dann möchte ich dir folgendes zu bedenken geben:

Ein retraumatisierter Mensch erleidet Qualen. Er denkt weder manipulativ, noch strategisch, wenn er in der herankommenden Panik seines Traumas gefangen ist. Du schon, wenn du jetzt denkst, das du nicht immer alles „richten“ möchtest. Auch geht es hier nicht darum, wer Recht hat und ob eine Situation vielleicht sogar eher vom anderen verschuldet ist, sondern es geht darum, dass du Hilfe leisten solltest, wie bei einem plötzlichen Unfall. Denn nichts anderes ist eine Retraumatisierung. Ein Unfall im Nervensystem.

Wenn du noch immer nicht überzeugt bist, dann stelle dir einmal vor, du erlebst, wie sich dein PartnerIn während einer Streitsituation körperlich schwer verletzt. Würdest du im selben Moment weiter streiten, deinen Satz unbedingt noch zu Ende formulieren wollen, oder würdest du sofort alles beiseite legen und erst einmal helfen?

Eine Retraumatisierung verlangt schnelle Hilfe und die richtige Hilfe. Wenn du die 4 Tipps beachtest, wird nie wieder etwas wirklich Schlimmes zwischen euch passieren.

Jedes Egodenken ist in solchen Situationen fehl am Platz. Ein Mensch kann erst wieder normal reagieren, wenn sich sein Nervensystem beruhigt hat und die Angst vor erneuten Auslösern verschwunden ist. Dazu braucht es euch beide, Vertrauen und Sicherheit.

Wie oben angekündigt nun noch 3 Hinweise, wie du erkennen kannst, wann ein Mensch von seinem Trauma erfasst wurde und du nicht mehr mit ihm gleichberechtigt weiter agieren kannst. Diese Hinweise können, je nach Mensch, natürlich variieren:

  • 1. der andere verstummt, bekommt kein Wort mehr heraus, erstarrt förmlich und/oder fängt plötzlich an wie verrückt zu weinen oder zu schreien – unverhältnismäßig, in Panik und wie wahnsinnig.
  • 2. Der Andere beginnt auf dich oder etwas loszugehen und entwickelt eine Aggression, die nicht zu ihm passt und die er nie eingesetzt hat. Auch da hast du das Gefühl, ein Wahnsinniger steht vor dir.
  • 3. Der Andere spricht davon, dass er sein Leben beenden möchte und das auf eine Art und Weise, das du den Menschen, den du eigentlich kennst nicht mehr wiedererkennst.

Alle diese Zustände werden von Panik und Wahnsinn begleitet und wirken nach außen komplett unverhältnismäßig. Solltest du darauf reaktiv eingehen, wird es immer schlimmer werden.

Wenn eine Retraumatisierung in vollem Gange ist, hast du sehr wahrscheinlich eine oder alle der oben genannten Regeln nicht beachtet und ihr werdet BEIDE mit den Folgeschäden klarkommen müssen… . Dafür gibt es dann immer noch Therapeuten, Paarberater, oder …. eine Trennung.

Bei einer Retraumatisierung seit ihr beide gefragt. Der, der durch die Qualen, Ängste und Panik geht und du, dessen Aufgabe es ist Halt und Sicherheit zu geben. Ihr habt es beide nicht leicht, jeder auf eine andere Art und Weise. Doch wozu gibt es denn Partnerschaften, wenn nicht dafür, einander zu helfen und beim Heilen eine Stütze zu sein. Zu einem Drama wird es immer nur dann, wenn ihr es laufen lasst, oder denkt, dass man es mit normale Beziehungsratschlägen lösen könnte.

Nun noch ein Wort zum Schluss!

Es kann passieren, dass das Trauma niemals ganz verschwindet. Aber ihr könnt dafür sorgen, gemeinsam!, dass es ruhen kann und wenn es dann doch wieder kommt, gemeinsam erkennt und durchsteht.

Das schafft ein enormes Vertrauen und eine tiefe Innigkeit zwischen euch. Und so kann sich aus einem Trauma eine wahrhaftige Traumbeziehung entwicklen. Ist das nicht das schönste und wertvollste Liebesgeschenk, das ihr einander geben könnt? In schweren wie in glücklichen Zeiten …. heißt es doch. Nicht: nur in glücklichen Stunden.

Ich wünsche euch, dass Ihr es schafft, dem Trauma des anderen mit Güte und Liebe zu begegnen. Und eurem eigenen Trauma mit mütterlichem Mitgefühl. 🌺